Vorsicht, Falle! Wie du mit Goodhart's Law deine Ziele wirklich erreichst (und nicht nur die Zahlen)
Du hast dir ein Ziel gesetzt. Vielleicht möchtest du dieses Jahr 50 Bücher lesen. Oder dein Team soll die Anzahl der Kundenanrufe um 20 % steigern. Oder du willst jeden Tag 10.000 Schritte gehen. Wir lieben es, Fortschritt zu messen. Zahlen geben uns ein Gefühl von Kontrolle und Erfolg. Was könnte daran falsch sein?
Eine ganze Menge. Und genau hier lauert eine der tückischsten Denkfallen, in die wir alle tappen können.
Die Kobra-Plage, die immer schlimmer wurde
Stell dir das Britisch-Indien des 19. Jahrhunderts vor. Die Regierung in Delhi ist besorgt über die wachsende Anzahl an giftigen Kobras in der Stadt. Um das Problem zu lösen, setzt sie eine Belohnung für jede tote Kobra aus, die bei den Behörden abgegeben wird.
Zuerst scheint der Plan aufzugehen. Immer mehr Kobras werden abgeliefert, und die Prämien werden fleißig ausgezahlt. Die Kennzahl – „Anzahl der abgegebenen Kobras“ – steigt und steigt. Ein voller Erfolg, oder?
Doch findige Bürger erkannten eine viel einfachere Methode, an das Geld zu kommen, als gefährliche Schlangen zu jagen: Sie begannen, Kobras zu züchten. Die gezüchteten Kobras wurden dann getötet und bei der Regierung gegen eine Prämie eingetauscht.
Als die Behörden den Betrug bemerkten, stellten sie das Prämienprogramm sofort ein. Was geschah als Nächstes? Die Kobrazüchter hatten nun unzählige wertlose Schlangen. Ihre logische Reaktion: Sie ließen sie frei.
Das Ergebnis? Nach der gut gemeinten Maßnahme gab es mehr freilebende Kobras in Delhi als je zuvor. Das Ziel, die Schlangenpopulation zu reduzieren, wurde ins genaue Gegenteil verkehrt.
Dieses Phänomen, oft als "Kobra-Effekt" bezeichnet, ist das perfekte Beispiel für ein mentales Modell namens Goodhart's Law.
Was ist Goodhart's Law?
Der britische Ökonom Charles Goodhart formulierte das Gesetz ursprünglich im Kontext der Geldpolitik. Die Anthropologin Marilyn Strathern fasste es jedoch in einer universelleren und heute bekannteren Form zusammen:
Wenn eine Kennzahl zu einem Ziel wird, hört sie auf, eine gute Kennzahl zu sein.
Lass diesen Satz kurz auf dich wirken. In dem Moment, in dem wir eine Messgröße (wie „Anzahl getöteter Kobras“) nehmen und sie zum alleinigen Ziel erklären, beginnt sie ihre Aussagekraft zu verlieren. Warum? Weil Menschen intelligent sind und anfangen, das System zu optimieren – aber nicht für das ursprüngliche Ziel (weniger Kobras), sondern für die Kennzahl selbst (maximale Prämien).
Die Kennzahl wird vom nützlichen Indikator zum manipulierten Selbstzweck.
Wo dir Goodhart's Law im Alltag begegnet
Diese Falle lauert überall. Wahrscheinlich bist du ihr heute schon mehrfach begegnet, ohne es zu merken.
- Im Job: Ein Vertriebsteam wird ausschließlich nach der Anzahl der abgeschlossenen Verträge bewertet. Bald werden sie vielleicht unrentable Verträge mit hohen Rabatten abschließen, nur um die Zahl zu erreichen. Das Unternehmen macht mehr Umsatz, aber weniger Gewinn. Das eigentliche Ziel (profitables Wachstum) wird untergraben.
 - In der Schule und Uni: Schüler lernen für den Test („Teaching to the test“). Sie pauken Fakten, um eine gute Note (die Kennzahl) zu schreiben, anstatt tiefes Verständnis und kritisches Denken (das eigentliche Ziel der Bildung) zu entwickeln. Nach dem Test ist das meiste wieder vergessen.
 - Bei deiner persönlichen Fitness: Du willst jeden Tag 10.000 Schritte auf deiner Smartwatch sehen. Also läufst du abends noch eine Runde auf der Stelle im Wohnzimmer, nur um die Zahl zu erreichen. Du ignorierst dabei vielleicht andere wichtige Aspekte deiner Gesundheit wie Krafttraining, Dehnung oder gesunde Ernährung, weil sie nicht so einfach in einer einzigen Zahl abgebildet werden.
 - In den sozialen Medien: Ein Unternehmen will seine Follower-Zahl steigern. Es kauft Follower oder veranstaltet oberflächliche Gewinnspiele. Die Zahl steigt, aber das Engagement und die Markentreue (das eigentliche Ziel) sinken, weil die neuen Follower nicht an den Inhalten interessiert sind.
 - In der Softwareentwicklung: Programmierer werden nach der Anzahl der geschriebenen Codezeilen bezahlt. Das Ergebnis ist aufgeblähter, ineffizienter und fehleranfälliger Code, anstatt der eleganten und schlanken Lösung, die eigentlich gewünscht war.
 
Das Muster ist immer dasselbe: Der "Proxy" – die leicht messbare Stellvertreter-Kennzahl – wird mit dem eigentlichen, oft komplexeren Ziel verwechselt. Wir optimieren den Proxy und verlieren das eigentliche Ziel aus den Augen.
Wie du der Goodhart-Falle entkommst: 4 praktische Strategien
Kennzahlen sind nicht per se schlecht. Sie sind unverzichtbare Werkzeuge. Du musst nur wissen, wie du sie klug einsetzt, ohne ihnen zum Opfer zu fallen.
1. Verstehe den Unterschied zwischen Ziel und Indikator Mach dir immer wieder den fundamentalen Unterschied klar:
- Das Ziel ist der Zustand, den du wirklich erreichen willst (z.B. „ein gesünderes, energiegeladeneres Leben führen“).
 - Der Indikator ist nur eine Messgröße, die dir Hinweise gibt, ob du auf dem richtigen Weg bist (z.B. „Anzahl der Schritte pro Tag“). Frage dich ständig: „Dient diese Messung wirklich noch meinem ursprünglichen Ziel, oder optimiere ich nur noch die Zahl selbst?“
 
2. Nutze einen Korb von Kennzahlen Verlasse dich niemals auf eine einzige Kennzahl. Kombiniere mehrere, die sich gegenseitig ausbalancieren.
- Wenn du die Anzahl der Kundenanrufe misst, miss gleichzeitig die Kundenzufriedenheit und die Problemlösungsrate.
 - Wenn du die Anzahl gelesener Bücher zählst, frage dich auch, was du aus jedem Buch gelernt und angewendet hast.
 - Wenn dein Team schnellere Software-Releases anstrebt, messt parallel die Anzahl der gemeldeten Bugs oder die Systemstabilität.
 
3. Fokussiere dich auf den Prozess, nicht nur auf das Ergebnis Manchmal ist es besser, die richtigen Gewohnheiten und Prozesse zu etablieren, anstatt ein reines Ergebnisziel zu jagen.
- Statt „10 Kilo abnehmen“ könntest du dir das Ziel setzen: „Dreimal pro Woche Sport treiben und zu 80 % unverarbeitete Lebensmittel essen“. Das Ergebnis (Gewichtsverlust) wird eine natürliche Folge des richtigen Prozesses sein und ist weniger anfällig für ungesunde Abkürzungen.
 
4. Integriere qualitative Prüfungen Zahlen lügen nicht, aber sie erzählen auch nie die ganze Geschichte. Kombiniere deine quantitativen Daten immer mit qualitativem Feedback.
- Sprich mit deinen Kunden. Führe Interviews.
 - Beobachte, wie die Leute wirklich arbeiten.
 - Frage dich selbst ehrlich: „Fühle ich mich wirklich fitter, oder jage ich nur einer Schrittzahl hinterher?“
 
Kennzahlen sind wie eine Landkarte. Sie können unglaublich nützlich sein, um dich zu orientieren und deinen Weg zu finden. Aber sie sind nicht das Gebiet selbst. Verwechsle niemals die Karte mit der reichen, komplexen und wunderschönen Landschaft, die du wirklich erkunden willst.