Die Macht der Zeit: Wie Omas Kochbuch länger überlebt als dein neues Smartphone
Schau dich mal um in deinem Bücherregal, deiner Musik-Playlist oder sogar in deiner Küche. Was siehst du? Neben dem neuesten Bestseller steht vielleicht ein Klassiker von Goethe. Neben dem aktuellen Chart-Hit findest du einen Song der Beatles. Und neben der Heißluftfritteuse liegt Omas handgeschriebenes Kochbuch mit zerfledderten Seiten.
Hast du dich jemals gefragt, warum manche Dinge einfach bleiben, während unzählige andere kommen und gehen? Warum ist die Bibel immer noch ein Bestseller, während die meisten Management-Ratgeber nach zwei Jahren vergessen sind?
Die Antwort darauf liefert ein faszinierendes mentales Modell: der Lindy-Effekt.
Was ist der Lindy-Effekt?
Stell dir vor, du bist am Broadway in New York. Eine neue Show startet heute. Wie lange wird sie laufen? Eine Woche? Einen Monat? Ein Jahr? Schwer zu sagen.
Jetzt schau dir eine andere Show an, die bereits seit 10 Jahren erfolgreich läuft. Was ist die wahrscheinlichere Prognose? Dass sie morgen abgesetzt wird oder dass sie noch weitere 10 Jahre läuft? Die meisten würden auf Letzteres wetten.
Genau das ist der Kern des Lindy-Effekts. Der Name stammt von "Lindy's", einem Delikatessenladen in New York, in dem sich Comedians trafen und über die Langlebigkeit von Karrieren und Shows philosophierten. Popularisiert wurde das Konzept später durch den Denker Nassim Nicholas Taleb.
Die Regel lautet:
Für nicht-vergängliche Dinge wie Ideen oder Technologien ist die zukünftige Lebenserwartung proportional zu ihrem bisherigen Alter.
Das bedeutet: Wenn ein Buch seit 50 Jahren gedruckt wird, stehen die Chancen gut, dass es auch in den nächsten 50 Jahren noch gelesen wird. Eine Technologie, die seit 100 Jahren existiert (wie das Fahrrad), wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in 100 Jahren noch relevant sein. Eine App, die erst sechs Monate alt ist? Ihre Zukunft ist weitaus ungewisser.
Der entscheidende Unterschied: Vergänglich vs. Nicht-Vergänglich
Der Lindy-Effekt gilt nicht für alles. Hier müssen wir eine wichtige Unterscheidung treffen.
| Lindy funktioniert hier NICHT (Vergängliches) | Lindy funktioniert hier SEHR GUT (Nicht-Vergängliches) | 
|---|---|
| Ein Mensch, ein Tier, eine Frucht. Je älter ein 80-Jähriger ist, desto kürzer ist seine statistische Restlebenserwartung. Das ist Biologie. | Eine Idee, ein Buch, eine Technologie, ein Rezept. Je länger eine Idee überlebt hat, desto länger ist ihre statistische Restlebenserwartung. | 
| Ein Fernseher, eine Glühbirne. Diese Dinge haben eine eingebaute Abnutzung. Alter ist hier ein Zeichen von Zerbrechlichkeit. | Ein Stuhl-Design, ein Musikstück, eine philosophische Schule. Diese Dinge nutzen sich nicht ab. Ihr Alter ist ein Zeichen von Robustheit. | 
Bei nicht-vergänglichen Dingen ist jedes zusätzliche Jahr des Überlebens ein Beweis dafür, dass sie Schocks, Konkurrenz und den Wandel des Geschmacks überstanden haben. Sie haben ihre "Fitness" bewiesen.
Wie du den Lindy-Effekt praktisch nutzen kannst
Das Schöne am Lindy-Effekt ist, dass er kein abstraktes Gedankenspiel ist. Du kannst ihn sofort anwenden, um bessere Entscheidungen zu treffen und dich im Lärm der modernen Welt zurechtzufinden.
1. Dein Medienkonsum: Bücher, Filme und Musik
- Lies Bücher, die die Zeit überdauert haben. Bevor du zum neuesten Hype-Buch greifst, frage dich: Welches Buch zu diesem Thema wird auch in 20 Jahren noch empfohlen? Die Werke der Stoiker (Seneca, Marc Aurel) werden seit 2000 Jahren gelesen. Die meisten "5 Schritte zum Erfolg"-Bücher sind nach 24 Monaten von der Bildfläche verschwunden.
 - Höre Musik, die Generationen überdauert. Natürlich macht es Spaß, neue Musik zu entdecken. Aber wenn du eine solide Basis für deinen Musikgeschmack schaffen willst, schau dir an, was seit 30, 40 oder 50 Jahren gehört wird. Beethoven, Bach, The Beatles, Led Zeppelin – ihre Langlebigkeit ist kein Zufall.
 
2. Dein Wissen und Lernen
- Fokussiere dich auf fundamentale Prinzipien statt auf flüchtige Trends. Lerne die Grundlagen der Mathematik statt der neuesten Programmiersprache, die in drei Jahren wieder out ist. Studiere die Prinzipien der Psychologie statt des neuesten Management-Jargons. Fundamentales Wissen ist "Lindy-sicher". Es bildet eine solide Basis, auf der du neue, kurzlebigere Dinge schnell lernen kannst.
 
3. Deine Werkzeuge und Technologien
- Sei skeptisch gegenüber dem "Neuesten und Besten". Das bedeutet nicht, dass du ein Technikfeind sein sollst. Aber erkenne den Wert von robusten, bewährten Werkzeugen. Ein Hammer hat sich seit Jahrtausenden bewährt. Ein Fahrrad ist eine hocheffiziente Technologie, die über 150 Jahre alt ist. Ein hochwertiges Ledernotizbuch funktioniert auch ohne Akku.
 - Wenn du eine neue Software oder App ausprobierst, frage dich: Löst sie ein altes Problem auf eine wirklich bessere Weise oder ist sie nur eine neue, komplizierte Lösung für ein Problem, das es vorher nicht gab?
 
Warum funktioniert das? Die Zeit als ultimativer Filter
Der Lindy-Effekt funktioniert, weil die Zeit ein brutaler, aber extrem effektiver Qualitätsfilter ist.
Jeden Tag sind Ideen, Bücher und Technologien unzähligen kleinen und großen "Zufallsereignissen" ausgesetzt: Kritik, neuen Konkurrenten, technologischem Wandel, sich ändernden Moden.
- Eine schwache Idee bricht unter der ersten Welle der Kritik zusammen.
 - Eine schlechte Technologie wird schnell von einer besseren verdrängt.
 - Ein oberflächliches Buch wird von der nächsten Generation von Lesern als irrelevant abgetan.
 
Was übrig bleibt, sind die Dinge, die robust genug sind, um all diese Filter zu überstehen. Sie besitzen eine innere Qualität, die sie anpassungsfähig und widerstandsfähig macht. Ihr langes Überleben ist der Beweis.
Ein wichtiger Hinweis: Lindy ist keine Kristallkugel
Der Lindy-Effekt ist eine Heuristik, eine Faustregel – keine physikalische Gesetzmäßigkeit. Eine 2000 Jahre alte Idee kann immer noch falsch sein. Ein altes Buch kann trotzdem schlecht sein.
Lindy gibt dir eine Aussage über Wahrscheinlichkeiten, nicht über Gewissheiten. Er hilft dir, dein Risiko zu steuern, auf etwas Flüchtiges und Wertloses hereinzufallen. Er ist ein Kompass, der dir hilft, im Meer der Neuheiten das Wertvolle und Beständige zu finden.
Es geht nicht darum, alles Neue abzulehnen. Jedes "alte" Ding war einmal neu. Es geht darum, eine gesunde Skepsis zu entwickeln und deine wertvollste Ressource – deine Zeit und Aufmerksamkeit – bewusst zu investieren.
Wenn du das nächste Mal vor der Wahl stehst – sei es ein Buch, ein Film, ein Werkzeug oder eine Idee –, halte einen Moment inne und frage dich: Was davon ist "Lindy"? Was hat schon bewiesen, dass es den Test der Zeit bestehen kann?
Du wirst überrascht sein, wie sehr diese einfache Frage deine Entscheidungen zum Besseren verändern kann.