Meistere den Flow: Wie Little's Law dir hilft, Engpässe zu verstehen und schneller zu werden
Stell dir vor, du stehst in der Schlange deines Lieblingscafés. Die Schlange ist lang, es geht nur schleppend voran und dein Geduldsfaden wird immer dünner. Oder denk an dein Projekt bei der Arbeit: Die Liste der offenen Aufgaben wird länger und länger, aber gefühlt wird nichts fertig.
Diese alltäglichen Frustrationen – das Warten – sind keine Zufälle. Sie gehorchen einer mathematischen Gesetzmäßigkeit, die so einfach wie mächtig ist. Ein mentales Modell, das dir die Augen öffnen wird, wenn du es einmal verstanden hast: Little's Law.
Es ist keine komplexe Raketenwissenschaft, sondern eine simple Formel, die das Verhalten von fast jedem System beschreibt, in dem Dinge "anstehen", um bearbeitet zu werden.
Die Magie hinter der Formel
Little's Law (benannt nach John Little, einem Professor am MIT) beschreibt die Beziehung zwischen drei fundamentalen Kennzahlen eines stabilen Systems. Die Formel lautet:
L = λ * W
Lass uns das kurz aufschlüsseln, denn hierin liegt der Schlüssel:
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L (WIP = Work in Progress): Dies ist die durchschnittliche Anzahl an Dingen, die sich gerade im System befinden. In unserem Café-Beispiel ist das die durchschnittliche Anzahl an Kunden, die auf ihren Kaffee warten. In deinem Software-Projekt sind das die Tickets im Status "In Bearbeitung". Auf deinem Schreibtisch sind es die angefangenen Aufgaben.
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λ (Lambda, der Durchsatz): Dies ist die durchschnittliche Rate, mit der Dinge das System verlassen. Im Café ist das die Anzahl der fertigen Kaffees pro Minute. Im Projekt die Anzahl der abgeschlossenen Tickets pro Woche. Für dich persönlich die Anzahl der erledigten Aufgaben pro Tag.
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W (Lead Time / Durchlaufzeit): Dies ist die durchschnittliche Zeit, die ein einzelnes Ding im System verbringt. Für den Café-Kunden ist es die Zeit vom Bestellen bis zum Erhalt des Kaffees. Im Projekt ist es die Zeit, die ein Ticket vom Status "In Bearbeitung" bis "Erledigt" benötigt.
 
Die simple Gleichung L = λ * W zeigt, dass diese drei Werte untrennbar miteinander verbunden sind. Wenn du zwei davon kennst, kannst du den dritten berechnen. Und noch wichtiger: Du kannst nicht einen Wert verändern, ohne mindestens einen der anderen zu beeinflussen.
Little's Law in der Praxis: Das Café-Beispiel
Stellen wir uns unser Café vor. Du beobachtest eine Weile und stellst fest:
- Im Durchschnitt stehen immer 10 Leute in der Schlange und warten auf ihren Kaffee (
L = 10). - Die Baristas schaffen es, pro Minute 2 Kaffees fertigzustellen (
λ = 2). 
Wie lange musst du also im Durchschnitt warten? Wir stellen die Formel um: W = L / λ.
W = 10 Leute / 2 Kaffees pro Minute = 5 Minuten
Deine durchschnittliche Wartezeit beträgt 5 Minuten. Intuitiv, oder?
Jetzt kommt der spannende Teil. Der Manager will die Wartezeit (W) auf 2,5 Minuten halbieren. Was kann er tun?
- Den Durchsatz (λ) erhöhen: Er könnte einen zweiten Barista einstellen, der ebenfalls 2 Kaffees pro Minute schafft. Der neue Durchsatz wäre 
λ = 4. Die neue Wartezeit wäre:W = 10 / 4 = 2,5 Minuten. Ziel erreicht. - Den Work in Progress (L) reduzieren: Das ist kniffliger. Er könnte die Anzahl der Leute, die gleichzeitig bestellen dürfen, auf 5 begrenzen (z.B. durch ein "Bitte hier warten"-Schild). Wenn 
Lauf 5 sinkt und der Durchsatz bei 2 bleibt, wäre die neue Wartezeit:W = 5 / 2 = 2,5 Minuten. Ziel ebenfalls erreicht. 
Dieses einfache Beispiel zeigt eine fundamentale Wahrheit: Wenn du schneller werden willst (also die Durchlaufzeit W senken willst), hast du nur zwei Hebel: Arbeite mehr pro Zeiteinheit (λ erhöhen) oder arbeite an weniger Dingen gleichzeitig (L reduzieren).
Warum "weniger anfangen, mehr beenden" kein leerer Spruch ist
Little's Law ist die mathematische Grundlage für die Prinzipien von Kanban und agilen Methoden. Schauen wir uns ein Software-Entwicklungsteam an.
L(WIP): Die Anzahl der User Stories, an denen das Team gleichzeitig arbeitet.λ(Durchsatz): Die Anzahl der Stories, die pro Woche fertig werden.W(Durchlaufzeit): Die Zeit, die eine Story von "Start" bis "Fertig" braucht.
Ein unerfahrenes Team denkt oft: "Um mehr zu schaffen, müssen wir mehr anfangen!" Sie ziehen also immer neue Aufgaben in ihre "In Progress"-Spalte. Ihr L (WIP) explodiert. Was passiert laut Little's Law, wenn der Durchsatz λ gleich bleibt?
W = L / λ
Wenn L steigt und λ konstant ist, muss W zwangsläufig steigen. Das Team arbeitet an 20 Dingen gleichzeitig, aber nichts wird fertig. Die Stakeholder werden nervös, weil die Durchlaufzeit für jede einzelne Funktion ins Unermessliche steigt. Ständiger Kontextwechsel zwischen den Aufgaben senkt in der Realität sogar den Durchsatz λ, was die Situation weiter verschlimmert.
Ein erfahrenes, agiles Team tut das Gegenteil. Es setzt ein WIP-Limit. Es sagt zum Beispiel: "Wir arbeiten an maximal 5 Aufgaben gleichzeitig." (L = 5). Dadurch zwingt sich das Team, Aufgaben erst abzuschließen, bevor neue begonnen werden.
Der Fokus verlagert sich von "beschäftigt aussehen" (hohes L) zu "Dinge fertigstellen" (hohes λ und niedriges W).
Durch das Limitieren des WIP sinkt die Durchlaufzeit W drastisch. Das Ergebnis: Ein stetiger Fluss an fertigen Features, glücklichere Stakeholder und ein weniger gestresstes Team.
Dein persönliches System optimieren
Du kannst Little's Law auch auf deine eigene Produktivität anwenden.
L: Die Anzahl der Aufgaben, die du "offen" hast und zwischen denen du hin- und herwechselst (E-Mails checken, an Bericht A schreiben, für Meeting B vorbereiten ...).λ: Wie viele Aufgaben du pro Tag wirklich abschließt.W: Wie lange eine durchschnittliche Aufgabe bei dir braucht, bis sie erledigt ist.
Fühlst du dich überlastet und unproduktiv? Wahrscheinlich ist dein persönliches L (WIP) zu hoch. Du jonglierst zu viele Bälle gleichzeitig.
Die Lösung ist simpel und radikal: Reduziere dein L. Konzentriere dich auf eine einzige Aufgabe. Schließe sie ab. Beginne dann die nächste. Indem du dein WIP auf 1 reduzierst, minimierst du den schädlichen Kontextwechsel, steigerst deinen Fokus und damit deinen Durchsatz λ. Das Resultat ist eine dramatisch verkürzte Durchlaufzeit W für jede einzelne Aufgabe.
Die Welt durch die Brille von Little's Law sehen
Little's Law ist mehr als eine Formel. Es ist ein mentales Modell, das dir hilft, die Dynamik von Warteschlangen und Prozessen überall zu erkennen.
- Verkehrsstau: Zu viele Autos auf der Autobahn (
List zu hoch) bei begrenzter Kapazität der Straße (λist fix) führt zu extrem langen Reisezeiten (W). - Leseliste: Eine Liste mit 200 ungelesenen Büchern (
L = 200) und einer Lesegeschwindigkeit von 10 Büchern pro Jahr (λ = 10) bedeutet, ein neu hinzugefügtes Buch wird im Schnitt erst in 20 Jahren gelesen (W = 200 / 10 = 20). - Unbeantwortete E-Mails: Ein Posteingang mit 500 unbeantworteten Mails (
L) lässt die Antwortzeit (W) explodieren, selbst wenn du fleißig Mails abarbeitest (λ). 
Achte von nun an auf die Systeme um dich herum. Wo siehst du einen hohen "Work in Progress"? Wo ist der Durchsatz der Engpass? Und wie lange dauert es wirklich, bis etwas erledigt wird?
Indem du die unsichtbare Verbindung zwischen diesen drei Größen verstehst, kannst du aufhören, gegen das System zu kämpfen, und anfangen, den Flow gezielt zu steuern. Begrenze, woran du arbeitest, konzentriere dich auf den Abschluss und beobachte, wie die Dinge plötzlich schneller fließen.