Solomon's Paradox

Das Solomon-Paradoxon: Warum du für andere klüger bist als für dich selbst

Ein Freund steckt in der Klemme. Ob es um eine knifflige berufliche Entscheidung, eine komplizierte Beziehung oder einen persönlichen Konflikt geht – du hörst aufmerksam zu, analysierst die Situation kühl und gibst einen Rat, der so glasklar und weise ist, dass er direkt aus einem Bestseller-Ratgeber stammen könnte. Dein Freund ist beeindruckt und dankbar.

Ein paar Wochen später: Du steckst selbst in einer ganz ähnlichen Zwickmühle. Plötzlich ist die Klarheit verschwunden. Deine Gedanken kreisen, Emotionen kochen hoch und eine gute Lösung scheint unerreichbar. Du fühlst dich blockiert, unsicher und überfordert.

Kommt dir das bekannt vor? Dann hast du das Solomon-Paradoxon am eigenen Leib erfahren. Dieses faszinierende mentale Modell beschreibt das Phänomen, dass wir oft weiser und rationaler über die Probleme anderer Menschen nachdenken können als über unsere eigenen.

Der weiseste Mann – und seine fatalen Fehler

Der Name des Paradoxons geht auf den biblischen König Salomo zurück. Er war weltberühmt für seine nahezu übermenschliche Weisheit, sein scharfes Urteilsvermögen und seine Fähigkeit, komplexe Streitigkeiten gerecht zu lösen. Menschen pilgerten von weither, um seinen Rat einzuholen.

Doch während er für sein Volk ein brillanter und weiser Herrscher war, traf er in seinem Privat- und späteren Regierungsleben eine Reihe katastrophaler Entscheidungen. Er häufte exzessiven Reichtum an, gab sich polygamen Eskapaden hin und traf kurzsichtige politische Entscheidungen, die nach seinem Tod letztendlich zur Spaltung seines glorreichen Königreichs führten.

Der weiseste Mann der Welt war also unfähig, seine eigene Weisheit auf seine persönlichen Probleme anzuwenden. Genau das ist der Kern des Solomon-Paradoxons.

Was steckt dahinter? Die Macht der psychologischen Distanz

Die moderne Psychologie hat eine überzeugende Erklärung für dieses Phänomen. Die Forscher Igor Grossmann und Ethan Kross, die den Begriff prägten, identifizierten den entscheidenden Faktor: psychologische Distanz.

Wenn wir das Problem einer anderen Person betrachten, haben wir automatisch eine emotionale und kognitive Distanz dazu. Wir sind nicht persönlich verstrickt. Diese Distanz erlaubt es uns:

  • Das große Ganze zu sehen: Wir verlieren uns nicht in unwichtigen, emotional aufgeladenen Details. Stattdessen erkennen wir die übergeordneten Muster und Zusammenhänge.
  • Abstrakt zu denken: Wir konzentrieren uns auf die Prinzipien und Werte, die auf dem Spiel stehen, anstatt auf unmittelbare Ängste und Wünsche.
  • Verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen: Wir können uns leichter in die Lage aller Beteiligten versetzen und erkennen die Konsequenzen verschiedener Handlungsoptionen.

Wenn es jedoch um unser eigenes Problem geht, bricht diese Distanz zusammen. Wir stecken mittendrin. Unser Ego, unsere Ängste, unsere Hoffnungen und unsere Unsicherheiten vernebeln unser Urteilsvermögen. Wir sind so nah dran, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen.

Wie du dein innerer Salomo für dich selbst wirst

Die gute Nachricht ist: Wenn du dieses Paradoxon verstehst, kannst du es gezielt aushebeln. Du musst nicht auf einen weisen Freund warten – du kannst lernen, dein eigener bester Ratgeber zu werden. Das Geheimnis liegt darin, künstlich jene psychologische Distanz zu schaffen, die du bei fremden Problemen ganz natürlich hast.

Hier sind vier praktische Techniken, die du sofort anwenden kannst:

1. Schaffe Distanz durch die Dritte-Person-Perspektive

Anstatt dich zu fragen: "Was soll ich jetzt tun?", formuliere die Frage in der dritten Person. Sprich mit dir selbst bei deinem Namen:

  • "Was wäre der beste nächste Schritt für [Dein Name]?"
  • "Warum fühlt sich [Dein Name] so gestresst? Welche Fakten übersieht er gerade?"

Dieser einfache sprachliche Trick zwingt dein Gehirn, die Situation aus einer Beobachterperspektive zu betrachten. Es fühlt sich sofort weniger persönlich und überwältigend an.

2. Frag dich: "Was würde ich einem Freund raten?"

Das ist die klassische und vielleicht wirksamste Methode. Stelle dir vor, dein bester Freund oder eine Person, die du sehr schätzt, käme mit exakt deinem Problem zu dir. Setz dich hin und formuliere den Rat, den du dieser Person geben würdest – am besten schriftlich.

Sei ehrlich: Der Rat, den du für deinen Freund formulierst, ist wahrscheinlich weitaus ruhiger, durchdachter und mutiger als das, was du dir selbst gerade erzählst. Diesen Rat hast du dir gerade selbst gegeben.

3. Reise in die Zukunft

Eine weitere Form der Distanzierung ist die zeitliche Distanz. Emotionale Turbulenzen sind oft auf den Moment fokussiert. Stelle dir die "10/10/10-Frage":

  • Wie werde ich in 10 Minuten über diese Entscheidung denken?
  • Wie werde ich in 10 Monaten darüber denken?
  • Wie werde ich in 10 Jahren darüber denken?

Diese Übung relativiert die unmittelbare Dringlichkeit und den emotionalen Druck. Sie hilft dir, Entscheidungen zu treffen, die mit deinen langfristigen Zielen und Werten im Einklang stehen, anstatt nur eine kurzfristige emotionale Reaktion zu sein.

4. Schreib es auf

Hole das Problem aus deinem Kopf heraus und bringe es aufs Papier. Beschreibe die Situation, als würdest du einen Bericht für eine neutrale Person verfassen. Erstelle eine Liste mit Pro- und Contra-Argumenten. Strukturiere deine Gedanken.

Allein der Akt des Schreibens externalisiert das Problem. Du verwandelst ein chaotisches Gefühlsknäuel in ein objektives Dokument, das du analysieren kannst – fast so, als wäre es das Problem eines anderen.


Du hast die Weisheit bereits in dir. Du beweist es jedes Mal, wenn du einem Freund einen guten Rat gibst. Das Solomon-Paradoxon zeigt uns, dass die Herausforderung nicht darin besteht, weiser zu werden, sondern darin, unsere vorhandene Weisheit auch dann zugänglich zu machen, wenn wir sie am dringendsten brauchen.

Nutze diese Techniken, um einen Schritt zurückzutreten, die Perspektive zu wechseln und die Klarheit zu finden, die schon immer da war. Werde zu deinem eigenen besten Ratgeber.


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